EINUNDZWANZIG
Ich bin ein YouTube-Star. Das Filmmaterial, auf dem ich mich aus einer scheinbar endlosen Kette von Victoria's-Secret-BHs, String-Tangas und Strapsen befreie, hat mir nicht nur den ach so intelligenten Spitznamen »Freak« eingebracht, sondern wurde auch bereits 2.323-mal angeklickt. Was ziemlich genau der Schülerzahl der Bay View High entspricht. Na ja, ein paar Lehrer eingeschlossen.
Haven macht mich darauf aufmerksam. Ich treffe sie an ihrem Spind, nachdem ich mit knapper Not ein Spießrutenlaufen überstanden habe, bei dem mir die Leute von allen Seiten zuriefen: »Hey, Freak! Fall nicht hin, Freak!«, und sie ist so nett, mich nicht nur über den Grund meiner plötzlichen Berühmtheit aufzuklären, sondern mich auch zu dem Video zu lotsen, damit ich mich auf meinem iPhone selbst dabei bewundern kann, wie ich mich freakmäßig aufführe.
»Oh, echt super«, sage ich und schüttele den Kopf, da ich weiß, dass dies eines meiner kleinsten Probleme ist, aber trotzdem.
»Es ist ziemlich bescheuert«, stimmt sie mir zu, schließt ihren Spind ab und sieht mich mit einem Gesichtsausdruck an, den man nur als mitleidig deuten kann - na ja, Mitleid in Zeitnot, denn für einen Freak wie mich bleiben nur ein paar Sekunden. »Und, war noch was? Ich muss nämlich los, ich hab Honor versprochen, dass ich ...«
Ich sehe sie an, ich meine, ich sehe sie richtig an. Ich sehe, dass ihre flammend rote Haarsträhne mittlerweile pinkfarben ist und ihr gewohnter Emu-Look mit blassem Teint und dunklen Sachen dem Style genau jener geklonten Cliquenmädchen mit ihrer künstlichen Bräune, den Glitzerklamotten und den aufgebauschten Haaren gewichen ist, über die sie sich früher immer lustig gemacht hat. Doch trotz ihres neuen Kleidungsstils, trotz ihrer neuen Zugehörigkeit zur Elite, trotz all der Beweise, die sie mir präsentiert, glaube ich einfach nicht, dass sie zurzeit für irgendetwas, was sie anhat, sagt oder tut, selbst verantwortlich ist. Denn obwohl Haven dazu neigt, sich an andere anzuhängen und sie zu imitieren, hat sie immer noch ihre Maßstäbe. Und ich weiß hundertprozentig, dass die Brigade um Stada und Honor eine Gruppe ist, zu der sie noch nie gehören wollte.
Doch selbst mein ganzes Wissen macht es nicht leichter, all das zu akzeptieren. Und obwohl ich weiß, dass es mit Sicherheit nichts ändern wird, sage ich: »Ich kann nicht glauben, dass du mit denen befreundet bist. Ich meine, nach allem, was sie mir angetan haben.« Ich schüttele den Kopf, damit sie weiß, wie weh mir das tut.
Und obwohl ich ihre Antwort schon ein paar Sekundenbruchteile früher höre, mildert es den Tiefschlag nicht ab, als sie sagt: »Haben sie dich geschubst? Haben sie dich gestoßen oder dir ein Bein gestellt oder dich irgendwie dazu gebracht, auf diesen BH-Ständer zu fallen? Oder hast du das ganz allein gemacht?« Mit hochgezogenen Brauen und geschürzten Lippen sieht sie mich aus schmalen Augen an. Und ich stehe da, sprachlos und stumm, während mir die Kehle dermaßen brennt, dass ich, selbst wenn ich wollte, kein Wort herausbrächte.
»Es ist eben - sei doch nicht so verkrampft, okay?« Sie verdreht die Augen. »Sie haben es doch nur witzig gemeint. Und du wärst wesentlich glücklicher, wenn du mal lockerlassen könntest. Hör auf, dich selbst und alles um dich herum so wahnsinnig ernst zu nehmen, und lern verdammt noch mal, ein bisschen zu leben! Also, im Ernst, Ever. Denk mal drüber nach, okay?«
Sie wendet sich ab und verschmilzt nahtlos mit den Schülermassen, die allesamt wie die Lemminge auf ihrem neuen Mittagspausenzug zu dem extra langen Tisch unterwegs sind, während ich zum Schultor rase.
Ich meine, warum soll ich mich quälen? Warum soll ich dableiben, nur damit ich Damen mit Stacia flirten sehe und von meinen Freunden als Freak bezeichnet werde? Warum habe ich all diese übersinnlichen Fähigkeiten, wenn ich sie nicht anwende und in meinem Sinne nutze - zum Beispiel, um die Schule zu schwänzen?
»Willst du schon weg?«
Ich ignoriere die Stimme hinter mir und gehe weiter. Roman ist so ziemlich der letzte Mensch, mit dem ich in diesem Moment reden will.
»Ever, hey, bleib stehen! Ich mein's ernst!« Er lacht und beschleunigt seinen Schritt, bis er direkt neben mir ist. »Wo brennt's denn?«
Ich schließe mein Auto auf, setze mich hinein und habe die Tür schon fast zugeschlagen, als er sie mit der Hand aufhält. Und obwohl ich weiß, dass ich stärker bin, dass ich, wenn ich wirklich wollte, die Tür zuziehen und davonfahren könnte, hindert mich die Tatsache, dass ich nach wie vor nicht an meine neue unsterbliche Kraft gewöhnt bin, daran. Denn so wenig ich Roman auch leiden kann, schrecke ich doch ein bisschen davor zurück, sie so zuzudonnern, dass ich ihm dabei die Hand abschlage.
Das spare ich mir lieber dafür auf, wenn ich es wirklich brauche.
»Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern fahren.« Ich ziehe erneut an der Tür, doch er umfasst sie bloß fester. Und als ich seine belustigte Miene mit der verblüffenden Kraft seiner Finger in Zusammenhang bringe, verspüre ich ein höchst sonderbares Kribbeln im Magen, als mir klar wird, dass diese vermeintlich so zufällig auftretenden Phänomene meinen schlimmsten Verdacht bestätigen.
Während ich beobachte, wie er die Hand hebt, um aus seiner Limodose zu trinken, entblößt er ein Handgelenk ohne jede Markierung, ohne irgendein Zeichen von einer Schlange, die ihren eigenen Schwanz frisst - das mythische Ouroboros-Symbol, das Zeichen eines bösartig gewordenen Unsterblichen -, und ich werde einfach nicht schlau aus alldem. Denn er isst und trinkt nicht nur, er hat nicht nur eine Aura und (zumindest für mich) zugängliche Gedanken, sondern er hat - so ungern ich es auch zugebe - meines Wissens keine äußerlichen Anzeichen des Bösen. Und wenn man das alles zusammennimmt, liegt auf der I land, dass mein Verdacht nicht nur paranoid ist, sondern auch noch unbegründet.
Was heißt, dass er nicht der böswillige Zerstörer ist, für den ich ihn gehalten habe.
Was wiederum heißt, dass er weder dafür verantwortlich ist, dass Damen mich verlassen hat, noch für Miles' und Havens Abtrünnigkeit. Nein, das würde wieder total auf mich zurückfallen.
Und obwohl sämtliche Beweise diese Theorie unterstützen, weigere ich mich, es zu akzeptieren. Denn wenn ich ihn erneut ansehe, geht mein Puls schneller, in meinem Magen sticht es, und mich überkommt ein Gefühl von Unbehagen und Beklommenheit, das es mir unmöglich macht zu glauben, dass er einfach ein lustiger junger Typ aus England ist, der zufällig an unserer Schule gelandet ist und sich in mich verguckt hat.
Denn eines weiß ich sicher: Alles war in Ordnung, bevor er hier auftauchte. Und seither ist nichts mehr, wie es war.
»Du lässt die Mittagspause sausen, was?«
Ich verdrehe die Augen. Ich meine, es ist ziemlich offensichtlich, was ich vorhabe, also verschwende ich meine Zeit nicht mit einer Antwort.
»Und wie ich sehe, hast du noch Platz für einen Beifahrer. Darf ich mitkommen?«
»Nein, darfst du nicht. Wenn du jetzt freundlicherweise deine Hand wegnehmen würdest.« Ich gestikuliere zu seiner Hand und mache mit den Fingern das internationale Zeichen für »verzieh dich«.
Er hebt ergeben die Hände und schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, Ever, aber je mehr du mir ausweichst, desto schneller bin ich hinter dir her. Es wäre ein ganzes Stück einfacher für uns, wenn du aufhören würdest davonzulaufen.«
Ich kneife die Augen zusammen und versuche, über seine sonnige Aura und die wohlgeordneten Gedanken hinauszublicken, doch ich werde von einer derart undurchdringlichen Barriere abgeblockt, dass es entweder tatsächlich eine Sackgasse ist oder er noch viel schlimmer ist, als ich dachte.
»Wenn du aufs Jagen bestehst«, sage ich, wobei meine Stimme wesentlich sicherer klingt, als ich mich fühle, »dann fang lieber schon mal mit dem Training an, denn dir steht ein Marathon bevor.«
Er zuckt zusammen und weicht zurück, während sich seine Augen weiten, als hätte ihn etwas gestochen. Und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das für echt halten. Doch ich weiß es besser. Er mimt das Ganze nur und gibt ein paar Gesichtsausdrücke zum Besten, um eine theatralische Wirkung zu erzielen. Aber ich habe keine Zeit, um als Zielscheibe seiner Witze herzuhalten.
Ich lege den Rückwärtsgang ein und stoße aus meiner Parklücke in der Hoffnung, damit einen Schlusspunkt zu setzen.
Aber er lacht nur und schlägt mit der Hand auf meine Motorhaube. »Wie du willst, Ever«, sagt er. »Das Spiel läuft.«